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Essstörungen bei Diabetes mellitus

Wissenschaftliche Unterstützung: Dr. Berthold Maier

Essstörungen wie Anorexie (Magersucht), Bulimie oder Binge-Eating sind psychische Erkrankungen, die mit einem erhöhten HbA1c und deutlich instabileren Blutglukosewerten einhergehen. Daher leben betroffene Menschen mit Diabetes mit dem deutlich erhöhten Risiko lebensbedrohlicher Notfälle wie zum Beispiel diabetischen Ketoazidosen – gerade dann, wenn sie absichtlich auf Insulin verzichten (= Insulin-Purging oder Diabulimie), um abzunehmen. Langfristig erhöhen die starken Blutglukoseschwankungen, die bei Essstörungen zu beobachten sind, das Risiko für schwerwiegende Komplikationen an Organen und Gefäßen. Da Essstörungen zu den psychischen Erkrankungen zählen, stellt die Psychotherapie eine essenzielle Säule in der Behandlung dar.



1. Diabetes Typ 1 und Essstörungen

Bei den meisten Menschen mit Typ-1-Diabetes beginnen Auffälligkeiten im Essverhalten sowie Essstörungen nach der Manifestation beziehungsweise Diagnosestellung des Typ-1-Diabetes. Auffällig ist zunächst der hohe Anteil von Menschen mit Typ-1-Diabetes mit einem gestörten Essverhalten, das jedoch nicht die Kriterien einer Essstörung erfüllt. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen schwanken die Häufigkeiten je nach Gewicht und Alter. Während bei beginnenden Jugendlichen (11 bis 13 Jahre) circa 8,1 Prozent ein auffälliges Essverhalten beschreiben, steigt dieser Anteil bei älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen (17 bis 19 Jahre) auf 38,1 Prozent stark an. Zur vorherrschenden Essstörung bei Menschen mit Typ-1-Diabetes zählt die Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht) mit einer Prävalenz von 1 bis 3 Prozent. Große Übersichtsarbeiten und Metaanalysen konnten jedoch nicht bestätigen, dass Bulimia nervosa bei Typ-1-Diabetes häufiger verbreitet ist als in der Normalbevölkerung.

Extrem selten findet sich die Anorexia nervosa (Magersucht) mit einer Prävalenz von circa 0,4 Prozent. Nach verschiedenen Untersuchungen kommt diese Essstörung bei Menschen mit Typ-1-Diabetes nicht häufiger vor als in Kontrollgruppen ohne Diabetes.

Auch wenn Männer mit Typ-1-Diabetes zum Teil an Magersucht und Ess-Brech-Sucht erkranken, machen mit 90 bis 95 Prozent insbesondere (jüngere) Frauen den größten Anteil der betroffenen Personen aus.

Charakteristisch für die Bulimie und Anorexie ist die übersteigerte Angst – insbesondere von Mädchen oder jungen Frauen –, zu dick zu werden. Für beide Essstörungen ist außerdem typisch, dass die Patientinnen und Patienten gegensteuernde Maßnahmen (= Purging) nutzen, um der Gewichtszunahme entgegenzuwirken. Sowohl bei der Bulimie wie auch bei der Anorexie versuchen betroffene Personen dysfunktional, durch Erbrechen, aber auch durch strikte Diäten oder den Gebrauch von Appetitzüglern, Abführmitteln und Diuretika die starke Angst vor einer Gewichtszunahme zu bewältigen.

Insulin-Purging

Eine weitere Strategie, einer Gewichtszunahme entgegenzuwirken, ist das Insulin-Purging. Hierbei spritzen betroffene Personen absichtlich zu wenig oder kein Insulin, um Gewicht zu verlieren. Dieses Verhalten ist bei Patientinnen und Patienten mit einer Bulimie, aber auch mit Anorexie weit verbreitet.

Da überschüssige Glukose aus dem Blut über die Nieren ausgeschieden wird, wird Insulin-Purging umgangssprachlich auch als Diabulimie bezeichnet, dem „Erbrechen über die Nieren“.

Akute Folgen des Insulinmangels können schwere Hyperglykämien mit lebensbedrohlichen Ketoazidosen sein. Bei länger andauerndem Insulin-Purging erhöht sich das Risiko für die Entwicklung einer Nephropathie, einer Retinopathie sowie für die Entstehung eines diabetischen Fußsyndroms. Weiterhin geht Insulin-Purging mit einer höheren Sterblichkeit einher.

Die Angaben zur Häufigkeit des Insulin-Purgings bei Menschen mit Typ-1-Diabetes schwanken je nach Studie und Region zwischen 4,1 und 58 Prozent. Bei Personen mit Typ-1-Diabetes und zusätzlicher Essstörung kommt das Insulin-Purging sogar noch häufiger vor. Hier liegen die Prävalenzen zwischen 47,9 und 90 Prozent.

Insulin-Purging scheint mit zunehmendem Alter zuzunehmen: Studien belegen einen Anteil von etwa 2 Prozent bei Kindern mit Typ-1-Diabetes im Alter zwischen 9 und 14 Jahren, etwa 14 Prozent bei weiblichen Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes und 30 bis 34 Prozent bei erwachsenen Frauen mit Typ-1-Diabetes. Obwohl Männer mit Typ-1-Diabetes insgesamt seltener betroffen sind, scheinen sie vor allem dann auf Insulin zu verzichten, wenn die Mahlzeit zu üppig ausfiel.

Risikofaktoren für Insulin-Purging sind psychische Störungen wie Depressionen, Stress und Traumata oder das Gefühl, ohne Unterstützung zu sein. Auch Familienkonflikte, der Einfluss (sozialer) Medien (Schönheitsideal), der sozioökonomische Status und eine geringere Fähigkeit zur Selbstregulierung erhöhen das Risiko für ein gestörtes Essverhalten.

Werden Menschen mit Typ-1-Diabetes befragt, warum sie auf Insulin verzichten, nennen sie als Gründe häufig den Vorteil, damit rasch und zuverlässig das Gewicht senken zu können, die vermeintliche Kontrolle über den Körper oder das positive Feedback auf den Gewichtsverlust. Da Insulin ein anaboles Hormon ist, kann die Behandlung mit Insulin zur Gewichtszunahme führen, was die Abneigung von Insulin zusätzlich fördern kann. Nicht selten werden auch selbstabwertende Gedanken, die Angst vor Hypoglykämien sowie eine „Diabetes-Erschöpfung“ als Grund für den Insulinmissbrauch genannt.

Bei Menschen, die wegen einer Ketoazidose intensivmedizinisch behandelt werden mussten, sollte in jedem Fall Insulin-Purging als mögliche Ursache in Betracht gezogen und exploriert werden. Bei schweren Ketoazidosen sollte selbstschädigendes Verhalten oder ein möglicher Suizidversuch nicht ausgeschlossen und daher abgeklärt werden.


2. Diabetes Typ 2 und Essstörungen

Im Gegensatz zu Typ-1-Diabetes weist etwa die Hälfte aller Menschen mit Typ-2-Diabetes schon vor der Diabetes-Diagnose ein auffälliges beziehungsweise essgestörtes Verhalten auf. Die vorherrschende Essstörung bei Menschen mit Typ-2-Diabetes ist die Binge-Eating-Störung, also unkontrollierte Essattacken, die hauptsächlich Erwachsene betreffen (Prävalenz 5,6 bis 7,5 Prozent). Die Binge-Eating-Störung findet sich bei beiden Geschlechtern ähnlich häufig. Daneben gehört die Bulimia nervosa zu den häufigsten Essstörungen bei Menschen mit Typ-2-Diabetes.

Binge-Eating-Störung

Bei der Binge-Eating-Störung essen Menschen nicht nur übermäßig große Mengen, sie essen sie außerdem sehr schnell bis zum unangenehmen Völlegefühl. Die Essanfälle finden meist im Verborgenen statt. Die Patientinnen und Patienten fühlen sich anschließend schuldig, sie schämen sich und es setzt eine Deprimiertheit über das eigene Verhalten ein. Der Leidensdruck steigt.

Im Gegensatz zur Bulimia nervosa, aber auch zur Anorexia nervosa, verzichten Menschen mit einer Binge-Eating-Störung auf gegensteuernde Maßnahmen wie Erbrechen oder Fasten. Häufig beschriebene Gefühle von Personen mit einer Binge-Eating-Störung sind Kontrollverlust, Verzweiflung, Schuld, Ekel oder Scham.

Die Binge-Eating-Störung ist die vorherrschende Essstörung bei Menschen mit Typ-2-Diabetes. Mehr als 80 Prozent aller Menschen mit Typ-2-Diabetes sind übergewichtig, viele davon haben schon vor der Diagnose eine Binge-Eating-Störung. Im Vergleich zur Anorexia nervosa und Bulimia nervosa sind ähnlich viele Männer wie Frauen von den Essanfällen betroffen und das gestörte Essverhalten findet sich häufiger bei erwachsenen Personen. Zudem gilt die Binge-Eating-Störung auch als Risikofaktor für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes.

Bei Menschen mit Diabetes, die übergewichtig sind und an einer Binge-Eating-Störung leiden, erhöht sich das Risiko für eine Insulinresistenz und für das metabolische Syndrom. Denn die Essstörung kann zu erhöhten HbA1c- und Blutdruckwerten sowie einem erhöhten Body-Mass-Index (BMI) führen. Diabetische und kardiovaskuläre Folgeerkrankungen können so frühzeitiger einsetzen als bei normalgewichtigen und adäquat eingestellten Menschen mit Diabetes.

Personen mit einer Binge-Eating-Störung weisen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung häufiger psychische Erkrankungen wie depressive Störungen, Angststörungen oder bipolare Störungen auf. Es gibt Hinweise darauf, dass die Essstörung das Suizidrisiko erhöht.

Menschen mit Typ-2-Diabetes haben häufig das Gefühl, sich dauerhaft an strikte Essenspläne halten zu müssen. Sich permanent beherrschen zu müssen, kann den Druck erhöhen und Essanfälle auslösen. Daneben tragen auch interpersonelle Probleme, Selbstwertprobleme und ein negatives Körperbild zur Entstehung und zur Aufrechterhaltung der Binge-Eating-Störung bei. Weitere psychosoziale Risiken sind kritische Lebensereignisse, Stress oder Depressivität beziehungsweise Depressionen.


3. Was erhöht das Risiko für Essstörungen bei Diabetes?

Für die Entstehung von gestörtem Essverhalten und Essstörungen werden 3 Gruppen von ursächlichen und begünstigenden Bedingungen diskutiert.

 

(a) Bedingungen, die der Essstörung vorausgehen:

Studien zeigen, dass zurückliegendes Übergewicht (1 bis 2 Jahre vor Diabetes-Manifestation) sowie die Tendenz zu einer raschen Gewichtszunahme vermehrt mit pathologischem Essverhalten bei weiblichen Jugendlichen und Erwachsenen einhergehen. Darüber hinaus ist der Zusammenhang zwischen der Unzufriedenheit mit dem Gewicht, der körperlichen Erscheinung, einem niedrigen Selbstwertgefühl und der Entwicklung von gestörtem Essverhalten gut belegt. Weiterhin ist bekannt, dass ein ungünstiger Umgang mit den Themen „Essen“ und „Gewicht“ in der Familie die Entwicklung von Essstörungen begünstigen kann (zum Beispiel negative Kommentare der Eltern zum Gewicht der Tochter, Diätverhalten der Mutter). Jugendliche mit Diabetes und mit gestörtem Essverhalten berichten häufiger von einer schlechteren Beziehung und Spannungen mit den Eltern als Jugendliche mit normalem Essverhalten.

 

(b) Zusammenhänge mit dem Beginn des Diabetes:

Längsschnittstudien zeigen, dass der Ausbruch des Diabetes unmittelbar vor und während der Pubertät ein besonders vulnerabler Zeitraum für die Entwicklung einer Essstörung ist – vor allem bei weiblichen Jugendlichen. In dieser Zeit kommt es ohnehin zu hormonellen Veränderungen und einem Anstieg des Körpergewichts und der Fettmasse, was die kritische Auseinandersetzung und Unzufriedenheit mit dem Körperbild begünstigt.

Weiterhin wird diskutiert, dass der rapide Gewichtsverlust im Vorfeld der Manifestation des Typ-1-Diabetes und die rasche Gewichtszunahme nach dem Beginn der Insulintherapie den Wunsch verstärkt, zum ursprünglichen Gewicht vor der Erkrankung zurückzukehren.

 

(c) Zusammenhänge mit dem Umgang mit der chronischen Erkrankung:

Die Behandlung des Diabetes erfordert eine vermehrte gedankliche Beschäftigung mit Essen und Mahlzeiten. Viele betroffene Personen beschreiben, dass sie sich durch gefühlte Einschränkungen und den Verlust von Spontanität belastet fühlen. Dieses Erleben könnte das Verlangen nach „ungünstigen Lebensmitteln“ (zum Beispiel Süßigkeiten) verstärken und Essattacken begünstigen. Diese bilden wiederum den „Nährboden“ für das Risiko, mit dem Weglassen von Insulin die Angst vor einer Gewichtszunahme zu kompensieren.

Hypoglykämien, die bei einer guten Blutglukoseeinstellung kaum vermeidbar sind, gehen häufig mit Heißhungergefühlen und dem Kontrollverlust bei der Aufnahme von Kohlenhydraten einher. Den anschließenden Schuldgefühlen sowie der Angst vor einem Gewichtsanstieg folgt häufig der starke Wunsch, zu fasten, was wiederum weitere Hypoglykämien begünstigt. Dieser Teufelskreis von Fasten, Essattacken und Schuldgefühlen ist mit dem Erleben von Patientinnen und Patienten mit einer Bulimia nervosa vergleichbar. Weiterhin zeigten Untersuchungen, dass Depressionen und Angststörungen bei weiblichen Jugendlichen die Entwicklung von auffälligem Essverhalten beziehungsweise Essstörungen begünstigen.


4. Essstörungen frühzeitig erkennen

Für Freunde und Angehörige, aber auch für das Diabetes-Team ist es oft nicht einfach, eine Essstörung bei Menschen mit Diabetes zu registrieren. Teil des Problems „Essstörung“ ist es, dass betroffene Personen pathologisches Essverhalten verheimlichen oder bestreiten. Daher sollte man bei einer Reihe von klinischen Anzeichen besonders aufmerksam sein und die Möglichkeit einer Essstörung ins Auge fassen.

  • Chronisch erhöhte Blutglukosewerte
    Bei Patientinnen und Patienten mit chronisch erhöhten HbA1c-Werten könnte nicht nur ein pathologisches Essverhalten, sondern auch Insulin-Purging eine entscheidende Therapiebarriere darstellen.
  • Wiederholte diabetische Ketoazidosen
    Bei jeder wiederkehrenden Ketoazidose sollte an Essanfälle mit einer hohen Kohlenhydratmenge, aber auch an absichtlich unterlassenes Insulinspritzen als klinisches Anzeichen einer Essstörung gedacht werden.
  • Gehäuft auftretende Hypoglykämien
    Absichtlich herbeigeführte Hypoglykämien erleichtern essgestörten Patientinnen und Patienten mit Typ-1-Diabetes die Rechtfertigung für das Essen von Süßigkeiten und Kohlenhydraten in hohen Mengen. Weiterhin könnten gehäuft auftretende Hypoglykämien auf Essanfälle mit anschließendem Erbrechen oder mit anschließender Überdosierung von Korrekturinsulin zurückzuführen sein. Darüber hinaus setzen wiederkehrende Hypoglykämien betroffene Personen häufig unter Druck, da sie zur Behandlung unfreiwillig Kohlenhydrate zu sich nehmen müssen, was wiederum die Angst vor einem Gewichtsanstieg verstärkt.
  • Andere Verdachtsmomente sind
    • Unerklärliche Blutglukoseschwankungen trotz wiederholter Anpassung der Insulintherapie
    • Deutliche Gewichtsschwankungen
    • Häufiges Absagen ärztlicher Termine
    • Ablehnen, gewogen zu werden
    • Übermäßige Beschäftigung mit der äußeren Erscheinung (Klagen über das eigene Aussehen, das zu hohe Gewicht, zu dicke Körperteile)
    • Anwendung starrer und rigider Essregeln, bei gleichzeitiger Verleugnung des Diätverhaltens
    • Intensive Beschäftigung mit Essen (mit dem Nährstoffgehalt), genaues Abwiegen
    • Kochen oder backen für andere, ohne selbst mitzuessen
    • Sehr langsames Essen, Bevorzugung von kleinen Bissen, Umsetzung von Essritualen
    • Vermeiden gemeinsamer Mahlzeiten mit dem Hinweis, bereits anderweitig schon gegessen zu haben
    • Exzessive körperliche Bewegung, um die Kalorienbilanz auszugleichen und/oder eine negative Kalorienbilanz herzustellen
    • Häufiger Rückzug bei / nach den Mahlzeiten
    • Häufiger Geruch nach Erbrochenem
    • Angegriffenes Zahnfleisch und Zahnschmelz, chronische Halsschmerzen, Entzündungen der Speiseröhre durch häufiges Erbrechen

 

Die Diagnose sollte von erfahrenen Fachleuten (Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen und -therapeuten, Psychotherapeutinnen und -therapeuten, Ärztinnen und Ärzten) gestellt werden. Bei der Abklärung sollten Fragebögen zum Einsatz kommen, die speziell für die Komorbidität von Diabetes und Essstörungen entwickelt wurden (zum Beispiel Diabetes Eating Problem Survey (DEPS-R)). Darüber hinaus existieren strukturierte psychiatrische Interviews entsprechend den gängigen Klassifikationssystemen (ICD-10, DSM V). In jedem Fall sollten auch therapiebezogene Daten (zum Beispiel Glukoseverlauf, Dokumentation der Kohlenhydrataufnahme, Insulinabgabe, körperliche Bewegung) sowie Blutwerte (zum Beispiel Hämatokrit, Blutfette, Schilddrüsenhormone, Kalium, Leberwerte) erfasst werden.


5. Essstörungen behandeln

Bei der Suche nach Therapien helfen professionelle und auf Essstörungen spezialisierte Beratungsstellen betroffene Personen und Angehörige individuell zu begleiten. Eine Übersicht über Beratungsmöglichkeiten sowie eine Suche nach Beratungsangeboten bietet beispielsweise das Portal „Essstörungen“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).

Idealerweise erfordert die Behandlung einer Essstörung die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen (zum Beispiel Psychotherapie, Diabetologie, Ernährungstherapie und Physiotherapie). Die Psychotherapie erfolgt – je nach Schwere, Gefährdungspotential und körperlichem Zustand – ambulant oder stationär. Begleitende psychische Störungen wie Depressionen oder Angststörungen sollten zwingend Bestandteil des Störungsmodells sein; das therapeutische Vorgehen sollte auf die Mitbehandlung begleitender psychischer Störungen ausgerichtet sein. Die Psychotherapie sollte nach Möglichkeit von einer Therapeutin oder einem Therapeuten mit psychodiabetologischen Kenntnissen durchgeführt werden. Bei jungen Patientinnen und Patienten können die Angehörigen in die Therapie mit einbezogen werden.

Primäre Ziele der multimodalen Therapie sind, je nach Art, Symptomatik und Schwere der Essstörung, eine nachhaltige Veränderung des Essverhaltens sowie eine angemessene Umsetzung der Insulintherapie. Je nach Art der Essstörung und verursachenden beziehungsweise aufrechterhaltenden Faktoren setzt sich die Therapie aus komplexen Methoden und Maßnahmen zusammen, die integral aufeinander abgestimmt sind. Betroffene Personen lernen beispielsweise in der Psychotherapie, Ängste vor einer Gewichtszunahme mit neuen Strategien zu bewältigen und den Teufelskreis von Essattacken, Erbrechen, Fasten, exzessiver Bewegung oder Purging zu durchbrechen sowie die Kontrolle über das Essverhalten zurückzuerlangen. Weiterhin erlernen betroffene Personen alternative Fertigkeiten zur Emotionsregulation und setzen sich mit festgefahrenen Denkmustern auseinander (zum Beispiel „Ich werde nur dann anerkannt, wenn ich schlank bin“).

Darüber hinaus zielt die Psychotherapie darauf ab, das Selbstwertgefühl zu verbessern, wieder zu einer unverzerrten Wahrnehmung des eigenen Körpers zurückzufinden (Körperschemastörung) und familiäre Konflikte zu klären, die der Essstörung vorausgingen und zu deren Entstehung beigetragen haben. Begleitet wird die Psychotherapie durch eine engmaschige diabetologische Versorgung mit einer regelmäßigen Anpassung der Insulintherapie. Neuere Studien postulieren positive Effekte von Diabetes-Technologien (zum Beispiel sensorgestützte Pumpensysteme) für Menschen mit Typ-1-Diabetes und pathologischem Essverhalten. Sie ermöglichen im Vergleich zur klassischen Pen-Therapie eine physiologischere und flexiblere Insulinversorgung. Bisherige Daten deuten auf bessere Blutglukosewerte und Therapieergebnisse hin.

Eine weitere Säule bildet die Ernährungstherapie, die betroffene Personen unterstützt, eine bedarfs- und bedürfnisgerechte Ernährungsweise zu finden. Ziel ist es, dass Patientinnen und Patienten mit Essstörungen ihr Essverhalten nicht mehr nach rigiden, kognitiven Regeln ausrichten, sondern wieder auf Körpersignale von Hunger und Sättigung achten und danach ihr Essverhalten gestalten. Weiterhin zielt die Ernährungstherapie darauf ab, sich von diätetischen Plänen und kalorienreduzierten Lebensmitteln zu distanzieren und schrittweise zu einer vollwertigen Ernährung zurückzufinden. Dazu gehört auch die Etablierung einer Mahlzeitenstruktur mit mindestens einer warmen Mahlzeit pro Tag.

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Stand: 06.06.2023