Hauptinhalt anzeigen

Was sind Leitlinien und wozu dienen sie?

Wissenschaftliche Unterstützung: PD Dr. Sabrina Schlesinger

Leitlinien sind Handlungs- und Entscheidungsempfehlungen für Fragestellungen in Bezug auf die Versorgung und Behandlung von Gesundheitsproblemen und Krankheiten. Sie richten sich an Gesundheitsfachkräfte mit dem Ziel, Wissen systematisch zusammenzutragen, die Transparenz medizinischer Entscheidungen zu erhöhen und so die Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern.

Der Unterschied zu anderen Quellen, die Wissen systematisch aufbereiten, wie beispielsweise systematische Reviews oder Metaanalysen, liegt in der Formulierung einer konkreten Handlungsempfehlung. Diese Handlungsempfehlung berücksichtigt die Aussagekraft und Übertragbarkeit der Studienergebnisse. Leitlinien können auch den Konsens mehrerer Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachbereichen darstellen. Dieser Konsens wird nach einem definierten, vorher festgelegten und veröffentlichten Vorgehen erarbeitet.

Ob die Empfehlung einer Leitlinie umgesetzt werden kann oder sollte, muss in der entsprechenden Situation unter Berücksichtigung von Indikation, Präferenz und Partizipation der Patientin oder des Patienten immer individuell geprüft werden. Leitlinien sind rechtlich nicht bindend und sollen lediglich bei der Entscheidung unterstützen.

Die Klassifikation der Leitlinien

Leitlinien werden in verschiedene Entwicklungsstufen eingeteilt, von S1 bis S3. Jede Klasse steht für ein bestimmtes methodisches Konzept, das den Leserinnen und Lesern auch offengelegt werden muss.

S3 ist die höchste Stufe. Hier liegen der Entwicklung systematische und evidenzbasierte Methoden zugrunde. Neben der Methodik spielt für die Entwicklungsstufe auch die Zusammensetzung der Leitliniengruppe sowie die Entscheidungsfindung eine Rolle. Je vielfältiger diese Gruppe ist, desto besser. Bei einer hohen Entwicklungsstufe sollten neben ärztlichen Vertreterinnen und Vertretern beispielsweise auch Patientinnen und Patienten, Pflegekräfte oder Apothekerinnen und Apotheker vertreten sein. Außerdem findet bei einer hohen Entwicklungsstufe eine dokumentierte und formell strukturierte Konsensusbildung statt. Gibt es eher eine informelle Diskussion ohne festgelegtes Vorgehen, wird die Leitlinie einer niedrigen Entwicklungsstufe zugeordnet.

Empfehlung und Evidenzgrade

In S3-Leitlinien werden Angaben über Evidenzstärke und Empfehlungsgrade gemacht. Die Evidenzstärke – oder auch Evidenzklasse genannt – beruht auf der Qualität der in den Leitlinien verwendeten Studien. Bei der Einteilung der Evidenzstärke orientieren sich die Leitliniengremien an anerkannten Klassifikationsschemata, beispielsweise aus Oxford oder des Scottish Intercollegiate Guidelines Network. In der Regel werden 4 Hauptklassen unterschieden, die in weitere Unterklassen eingeteilt werden.

Evidenzgrad

Beschreibung

Ia

Evidenz aufgrund von Metaanalysen randomisierter, kontrollierter Studien.

IIa

Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten, kontrollierten Studie ohne Randomisierung.

Ib

Evidenz aufgrund mindestens einer randomisierten, kontrollierten Studie.

IIb

Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten, nicht randomisierten und nicht kontrollierten klinischen Studie, zum Beispiel Kohortenstudie.

III

Evidenz aufgrund gut angelegter, nicht experimenteller, deskriptiver Studien, wie zum Beispiel Vergleichsstudien, Korrelationsstudien und Fall-Kontroll-Studien.

IV

Evidenz aufgrund von Berichten der Experten-Ausschüsse oder Expertenmeinungen und/oder klinischer Erfahrung anerkannter Autoritäten.

 

Empfehlungen sind handlungsbezogene Kernaussagen in Bezug auf ein Thema, beispielsweise ein Therapieverfahren für eine bestimmte Erkrankung. Wie stark eine Empfehlung ist, wird in Form von Empfehlungsgraden ausgedrückt und von der Leitliniengruppe festgelegt. Der Empfehlungsgrad beruht zum einen auf der wissenschaftlichen Datenlage und -qualität, also der Aussagekraft (Evidenzstärke). Zum anderen fließen auch Aspekte, wie die klinische Relevanz, die Risiken einer Maßnahme sowie die Anwendbarkeit und Umsetzbarkeit im Gesundheitswesen in den Empfehlungsgrad ein.

Empfehlungsgrad

Beschreibung

Syntax

A

Starke Empfehlung

soll / soll nicht

B

Empfehlung

sollte / sollte nicht

0

Empfehlung offen

kann erwogen werden / kann verzichtet werden

 

Die Entwicklung deutschsprachiger Leitlinien wird von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) e.V. koordiniert. Auf ihrer Website findet man alle deutschsprachigen Leitlinien.

Die Entwicklung einer Leitlinie ist ein langer Prozess. Dabei wird sich eng an dem Deutschen Leitlinien-Bewertungsinstrument – kurz DELBI – orientiert. DELBI ist ein Qualitätskriterienkatalog, der den Leitlinienverfasserinnen und -verfassern als Orientierungshilfe dient. Es wurde im Jahr 2005 von der AWMF und dem ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) entwickelt.

Am Beginn der Leitlinienerstellung steht immer ein Problem im Gesundheitswesen, aus dem eine Fragestellung abgeleitet wird. Zur Beantwortung der Fragestellung wird eine sogenannte Leitliniengruppe mit 10 bis 15 Personen gebildet. Diese Leitliniengruppe sollte multidisziplinär sein und neben Expertinnen und Experten mit Praxiserfahrung beispielsweise auch Patientinnen und Patienten einschließen. Um Transparenz zu gewährleisten, muss jedes Mitglied eine Erklärung über Interessenskonflikte abgeben. Die AWMF definiert Interessenkonflikte als „Gegebenheiten, die ein Risiko dafür schaffen, dass professionelles Urteilsvermögen, welches sich auf ein primäres Interesse beziehen, durch ein sekundäres Interesse unangemessen beeinflusst wird.“ Dazu zählen zum Beispiel Referentinnen- oder Referenten-Honorare, Mitgliedschaften bei Vereinen, Gesellschaften und/oder Verbänden sowie Zuwendungen von Pharmaunternehmen.

Anschließend wird das Vorgehen genau geplant. Dabei beginnt die Leitliniengruppe damit zu entscheiden, in welche S-Klasse die Leitlinie eingeordnet werden soll. Bei der Wahl ist in erster Linie entscheidend, wie viel Aufwand möglich, realisierbar oder sinnvoll ist.

Ist alles genau geplant, kann die Leitlinie bei der AWMF angemeldet werden. Anschließend folgt die Leitlinienentwicklung, in der die medizinische Literatur systematisch gesichtet und nach ihrer Evidenz bewertet wird. In der Leitliniengruppe findet eine strukturierte Konsensfindung statt und die Empfehlungsgrade werden eingestuft.

Danach kann die Leitlinie redaktionell ausgearbeitet werden. Unter anderem werden verschiedene Versionen erstellt. Nach der Leitlinienverabschiedung folgt die Implementierung. Zudem werden Leitlinien auch durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des jeweiligen Themenbereiches nach den international geforderten Qualitätskriterien evaluiert. Je nach Evaluationsergebnis werden die Leitlinien angepasst und aktualisiert. Erst danach wird die Leitlinie bei der AWMF veröffentlicht.

Auch internationale Fachgesellschaften geben eine Vielzahl von Leitlinien oder Empfehlungen heraus, meist in englischer Sprache. Für den Diabetologie-Bereich sind die American Diabetes Association (ADA) sowie die European Association for the Study of Diabetes (EASD) wichtige Herausgeber dieser Leitlinien.

Beispiele Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften aus Deutschland:

Therapie Typ-1-Diabetes

DDG. Therapie des Typ-1-Diabetes. S3-Leitlinie. 2023

Gültig bis 01.09.2028

Therapie Typ-2-Diabetes

BÄK, KBV, AWMF. Nationale VersorgungsLeitlinie Typ-2-Diabetes. Langfassung. 2023

Gültig bis 15.05.2028

Diabetes und Schwangerschaft

DDG. Diabetes in der Schwangerschaft. S2e-Leitlinie. 2021

Gültig bis 29.11.2026

Gestationsdiabetes

DDG, DGGG. Gestationsdiabetes mellitus (GDM), Diagnostik, Therapie und Nachsorge. S3-Leitlinie. 2018

In Überarbeitung, gültig bis 27.02.2023

Diabetes bei Kindern und Jugendlichen

DDG. Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter. S3-Leitlinie. 2023

Gültig bis 14.11.2028

Diabetes im Alter

DDG. Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Alter. S2k-Leitlinie. 2018

In Überarbeitung, gültig bis 13.07.2023

Diabetes und Straßenverkehr

DDG. Diabetes und Straßenverkehr. S2e-Leitlinie. 2017

In Überarbeitung, gültig bis 30.11.2022

Nicht-alkoholische Fettlebererkrankungen

DGVS. Nicht-alkoholische Fettlebererkrankungen. S2k-Leitlinie. 2022

Gültig bis 30.09.2026

Adipositas

DAG. Adipositas – Prävention und Therapie. S3-Leitlinie. 2014

In Überarbeitung, gültig bis 30.04.2019

Beispiele englischsprachige Leitlinien:

Standards of Medical Care in Diabetes

American Diabetes Association. Standards of Medical Care in Diabetes – 2024. Diabetes Care 2024

Jährliche Aktualisierung

Management of hyperglycaemia in type 2 diabetes

ADA, EASD. Management of Hyperglycemia in Type 2 Diabetes. Consensus Report 2022

Unregelmäßige Aktualisierung

European Guidelines on CVD Prevention in Clinical Practice

European Guidelines on CVD Prevention in Clinical Practice. 2021

Unregelmäßige Aktualisierung

Clinical Practice Guidelines for the management of non-alcoholic fatty liver disease

EASL, EASD, EASO. Clinical Practice Guidelines for management of non-alcoholic fatty liver disease. 2016

Unregelmäßige Aktualisierung

 

Die Qualität einer Leitlinie wird maßgeblich davon bestimmt, wie aktuell ihre Empfehlungen und die zugrundeliegende Literatur ist. Deshalb hat die AWMF in ihrem Regelwerk festgelegt, dass Leitlinien 5 Jahre gültig sind. Danach sind sie abgelaufen und müssen von der Leitliniengruppe überprüft werden. Wird festgestellt, dass die Aussagen der Leitlinie größtenteils unverändert aktuell sind, kann die Gültigkeit der Leitlinie verlängert werden. Sind Themenbereiche veraltet, muss sie die Leitliniengruppe auf den neuesten Stand bringen. Außerdem können auch neue Fragestellungen oder Aspekte der Leitlinie hinzugefügt werden.

Das Gültigkeitsdatum wird auf der Leitlinie vermerkt. Nach Ablauf der Gültigkeit wird die Leitlinie mit einem Vermerk „Gültigkeit abgelaufen, in Überprüfung“ dargestellt.

Gibt es wichtige neue Erkenntnisse, können Leitlinien auch kurzfristig unter Einbezug aller Leitlinienautorinnen und -autoren angepasst werden.

Quellen:

Agency for Health Care Policy and Research: AHCPR clinical practice guidelines. In: Am Fam Physician, 1992, 46: 57-58
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.: AWMF-Regelwerk Leitlinien. (Letzter Abruf: 14.02.2024)
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.: Empfehlungen der AWMF zum Umgang mit Interessenkonflikten bei Aktivitäten wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften. Version 2.2. 2017
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.: Das AWMF-Regelwerk Leitlinien. Version 2.1. 2023
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. et al.: Das Leitlinien-Manual von AWMF und ÄZQ. Entwicklung und Implementierung von Leitlinien in der Medizin. In: Z Arztl Fortbild Qualitatssich, 2001, 95: 4-84
Bundesärztekammer et al.: Leitliniengrundlagen. (Letzter Abruf: 14.02.2024)
Cochrane Deutschland: Leitlinien. (Letzter Abruf: 14.02.2024)
Deutsche Apotheker Zeitung: Keine Scheu vor Leitlinien. In: DAZ, 2014, 43: 46
Richardson, W. S. et al.: The well-built clinical question: a key to evidence-based decisions. In: ACP J Club, 1995, 123: A12-13
Scottish Intercollegiate Guidelines Network: SIGN 50. A guideline developer’s handbook. 2019
Scottish Intercollegiate Guidelines Network: Obesity in Scotland. Integrating prevention with weight management. A national clinical guideline recommended for use in Scotland. 1996. Edinburgh
Stand: 14.02.2024