Wie funktioniert medizinische Forschung?
Wissenschaftliche Unterstützung: Prof. Dr. Christian Herder
Die medizinische Forschung ist ständig im Fluss. Täglich werden neue Ergebnisse aus wissenschaftlichen Studien veröffentlicht. Doch wie funktioniert Forschung in der Medizin eigentlich? Welche Arten von klinischen Studien gibt es? Unterscheiden sich die verschiedenen Studienarten in ihrer Aussagekraft? Und wo liegen die Grenzen von klinischen Studien?
Inhaltsverzeichnis
1. Die verschiedenen Bereiche der medizinischen Forschung
Im Allgemeinen werden die Grundlagenforschung, die präklinische Forschung und die klinische Forschung unterschieden.
- Die Grundlagenforschung überprüft medizinische Prinzipien und Zusammenhänge. Es geht in erster Linie darum, Wissen zu erweitern und neue Erkenntnisse zu gewinnen.
- Die präklinische Forschung – auch vorklinische Forschung genannt – kann ebenfalls im Labor erfolgen. Ein Beispiel sind Studien mit Zellen oder Geweben, die von Menschen oder von Tieren stammen. Fachsprachlich werden sie In-vitro-Studien genannt.
- Die Übertragbarkeit der Ergebnisse solcher In-vitro-Studien, die außerhalb eines lebenden Organismus stattfinden, hat jedoch ihre Grenzen. Daher schließen sich meist sogenannte In-vivo-Studien an: Hier werden die Untersuchungen am lebenden Organismus durchgeführt, das heißt direkt am Tier oder am Menschen. Wird an Tieren geforscht, nennt man das auch Tiermodell. Studien an Tiermodellen zählen zur präklinischen Forschung. Studien an Menschen gehören zur klinischen Forschung. Präklinische und klinische Forschung kommen beispielsweise zum Einsatz, wenn die Wirksamkeit und Sicherheit eines neuen Arzneimittels untersucht werden sollen.
2. Studien in der klinischen Forschung – 2 Haupttypen
Die klinische Forschung untersucht, ob eine Änderung des Lebensstils, Medikamente, medizinische Behandlungsverfahren, Geräte oder Apps die Gesundheit des Menschen verbessern können. Auch Möglichkeiten der Vorbeugung und Diagnose von Krankheiten werden mittels klinischer Studien erforscht. Die Durchführung der Studien erfolgt nach einem im Voraus festgelegten Plan oder Protokoll.
Bei der klinischen Forschung werden 2 Haupttypen von Studien unterschieden: interventionelle (= „eingreifende“) und nicht-interventionelle (= „nicht-eingreifende“) Studien. Nicht-interventionelle Studien werden auch als Beobachtungsstudien bezeichnet.
Studien zur Prüfung neuer Behandlungen – interventionelle Studien
Eine interventionelle Studie setzt geplant gezielte Maßnahmen ein, um zu verhindern, dass eine Krankheit ausbricht oder weiter fortschreitet. Häufig handelt es sich um sogenannte „kontrollierte Studien“, die eine neue Behandlung, zum Beispiel ein neues Medikament oder eine Lebensstil-Maßnahme, mit einer anderen Behandlung oder mit einer Scheinbehandlung, einem Placebo, vergleichen. Diese Vergleiche helfen, den tatsächlichen Effekt einer neuen Behandlung besser beurteilen zu können.
Kontrollierte Interventionsstudien werden oft randomisiert durchgeführt. „Randomisierung“ bedeutet, dass die Teilnehmenden per Zufallslos in die unterschiedlichen Studiengruppen eingeteilt werden. Die „Verumgruppe“ oder „Behandlungsgruppe“ erhält dabei die neue, zu prüfende Behandlung. Die Gruppe, die der Kontrollbehandlung oder der Placebo-Behandlung zugeordnet wird, ist die „Kontrollgruppe“. Ziel der Zufallsverteilung ist es, dass die Patientinnen und Patienten in beiden Gruppen möglichst ähnliche Eigenschaften haben.
Wenn die Zahl der Teilnehmenden groß ist, sind die Ergebnisse später häufig besser vergleichbar, präziser und aussagekräftiger. Wie viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Studie haben sollte, können die Forschungsteams vorher genau berechnen.
„Verblindung“ ist ein weiteres häufiges Merkmal kontrollierter Interventionsstudien. Damit ist gemeint, dass die Patientinnen und Patienten in der Studie nicht wissen, ob sie in der Behandlungsgruppe oder in der Kontrollgruppe sind. Bei einer doppelten Verblindung wissen dies auch die Forschenden nicht. Durch eine Verblindung soll verhindert werden, dass Erwartungen bezüglich der Medikamente das Behandlungsergebnis verfälschen. Erst am Studienende wird aufgedeckt („entblindet“), welche Person in welcher Gruppe war.
Beobachtungsstudien – was sind nicht-interventionelle Studien?
Nicht-interventionelleStudien beobachten nur und greifen nicht in den Krankheits- und Behandlungsverlauf ein.
Beispiele für nicht-interventionelle Studien:
- Kohortenstudien sind Längsschnittstudien, die Personen über einen vorab definierten Zeitraum begleiten und beobachten, aber nicht eingreifen. Ziel ist es, Zusammenhänge zwischen Merkmalen der Studienteilnehmenden und dem Auftreten einer Krankheit aufzudecken.
- Fall-Kontroll-Studien vergleichen rückblickend 2 Personengruppen, zum Beispiel eine 1. Gruppe mit einer bestimmten Erkrankung (= „Fälle“) und eine 2. Gruppe ohne diese Erkrankung (= „Kontrollen“). Aus dem Vergleich erhoffen sich die Forschenden, Rückschlüsse auf mögliche Ursachen oder Risikofaktoren für die Krankheit ziehen zu können. Da es sich um eine rückblickende Auswertung handelt, spricht man auch von einer „retrospektiven“ Studie.
- Querschnittstudien vergleichen Eigenschaften in verschiedenen Personengruppen zu einem bestimmten Untersuchungszeitpunkt. Eine Querschnittstudie ist damit eine Art Momentaufnahme.
3. Wie aussagekräftig sind klinische Studien?
Klinische Studien werden im Voraus sorgfältig geplant. Die Auswertung der Ergebnisse erfolgt mit statistischen Methoden nach klar definierten Regeln. Allerdings ist Studie nicht gleich Studie. Die verschiedenen Konzepte oder Designs für klinische Studien unterscheiden sich hinsichtlich des Fehlerrisikos und der Verzerrung ihrer Ergebnisse. Einige Studienarten liefern Ergebnisse mit hoher Aussagekraft. Andere Studienarten liefern hingegen „nur“ Hinweise, die weiter überprüft werden müssen.
Die Aussagekraft (= Evidenz) der verschiedenen Studienarten wird in eine Evidenz-Hierarchie, die sogenannten Evidenzklassen, eingeordnet. Die Evidenzklasse beschreibt die wissenschaftliche Aussagekraft einer klinischen Studie.
Derzeit gibt es 6 Evidenzklassen (Ia, Ib, IIa, IIb, III, IV). Die höchste Aussagefähigkeit haben Studien der Evidenzklasse Ia. Das sind zum Beispiel Metaanalysen von randomisierten kontrollierten Studien. Bei einer Metaanalyse werden viele Studien zu derselben Fragestellung ausgewertet und verglichen. Das Gesamtergebnis der Metaanalyse hat in der Regel eine höhere Aussagekraft als die Ergebnisse der Einzelstudien.
4. Wo sind die Grenzen klinischer Studien?
Klinische Studien sind wichtig, um die Wirksamkeit und Sicherheit medizinischer Behandlungen beim Menschen zu belegen. Allerdings können auch klinische Studien mit einer hohen Evidenzklasse keine endgültigen Wahrheiten liefern und alle Fragen beantworten – es geht immer um Wahrscheinlichkeiten.
Klinische Studien untersuchen Personengruppen, deren Eigenschaften im Voraus genau festgelegt sind. Beispielsweise werden alte Menschen, Menschen mit vielen Begleiterkrankungen oder auch Kinder oftmals nicht in einer Studie erfasst, um die Risiken einer klinischen Prüfung oder andere Einflussfaktoren möglichst gering zu halten. Die Ergebnisse klinischer Studien sind daher nie auf alle Personen übertragbar. Zudem ist die Laufzeit von klinischen Studien in der Regel auf Monate bis wenige Jahre begrenzt, so dass Wirkungen oder Nebenwirkungen über einen längeren Zeitraum nicht erfasst werden können.
Quellen:
Bundesministerium für Bildung und Forschung: Wie funktionieren klinische Studien? (Letzter Abruf: 21.08.2023)
Verband forschender Arzneimittelhersteller e.V.: So entsteht ein neues Medikament. (Letzter Abruf: 21.08.2023)
Stand: 21.08.2023