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Auswirkungen von Stress auf den Blutzucker bei Diabetes

Wissenschaftliche Unterstützung: Dr. Berthold Maier

Seit langem ist bekannt, dass stressreiche Lebensbedingungen, einschneidende Lebensereignisse oder Stress durch Flug-, Zug- oder Straßenlärm sich negativ auf den gesamten Stoffwechsel auswirken. Ein Leben mit Diabetes birgt aufgrund der vielen Herausforderungen der Krankheit ein zusätzliches Risiko für Stress. Viele Menschen reagieren bei der Mitteilung der Diabetes-Diagnose mit einer starken Stressreaktion. Aber auch die Aussicht, dauerhaft mit der Erkrankung leben zu müssen, kann Menschen überfordern und psychisch stark belasten. Psychische Folgen wie Schuldgefühle, Angst oder Depressionen erhöhen das Stresserleben und erschweren die eigenverantwortliche Behandlung des Diabetes.

Doch warum ist es unter Stress viel schwieriger, den Diabetes gut zu behandeln? Die mentale Belastung aktiviert das sympathische Nervensystem, Teile des Gehirns und die Nebennierenrinden, die in Folge eine Vielzahl von Stresshormonen produzieren und an den Körper abgeben. Allen voran spielen Kortisol, Noradrenalin und Adrenalin eine wesentliche Rolle. Sie erhöhen die Blutzuckerspiegel und Blutfettwerte, steigern den Blutdruck und verringern die Wirkung von Insulin.



1. Was ist Stress?

Unter dem Begriff Stress wird die starke Belastung eines Körpers durch äußere oder innere Stressauslöser (auch Stressoren genannt) verstanden. Für unsere stammesgeschichtlichen Vorfahren bedeutete die Reaktion auf Stress einen überlebenswichtigen Motor, Gefahren zu bewältigen oder ihnen zu entkommen. Sichtete ein Mensch vor tausenden von Jahren einen Löwen oder Bären in direkter Nähe, verhalf ihm der Stress zur schnellen Flucht: Das alarmierte sympathische Nervensystem und Teile des Gehirns aktivierten die Nebennierenrinden, Energie in Form von Zucker und Fetten auszuschütten. Sie stimulierten das Herz-Kreislauf-System zum Blutdruckanstieg sowie verbesserter Sauerstoffversorgung und regten Muskeln und Lunge zur Höchstleistung an. Nach erfolgreicher Flucht, konnten sich unsere Vorfahren in Sicherheit wiegen und zur Ruhe kommen. Die Körpersysteme fuhren herunter und der Organismus kam wieder ins Gleichgewicht.

Seitdem hat sich das Leben stark verändert. Lebensbedrohliche Gefahren sind selten geworden und wir leben dank des Fortschritts größtenteils in Sicherheit. Doch das Phänomen Stress und die körperlichen Reaktionen sind geblieben. Mittlerweile sind unzählige äußere wie innere Stressoren bekannt, die das innere Gleichgewicht des Körpers stören und Prozesse in Gang setzen, die krank machen.

Lärm, Hitze, Reizüberflutung oder Schlafentzug, Schmerzen und Verletzungen oder permanenter Zeitdruck, eine Über- und Unterforderung am Arbeitsplatz sowie zwischenmenschliche Konflikte oder Einsamkeit werden von den meisten Menschen als Stress erlebt. Wir reagieren außerdem gestresst, wenn wir Zeit im Stau oder in einer Warteschlange verlieren oder uns finanzielle Sorgen belasten. Auch vor sportlichen Wettbewerben, wichtigen Vorträgen, Meetings oder Telefonaten steigt die psychische Anspannung meist stark an.

Kritische Lebensereignisse wie der Verlust eines geliebten Menschen oder des Arbeitsplatzes, Naturkatastrophen oder Kriegserlebnisse werden meist extrem belastend erlebt. Darüber hinaus kann auch die Diagnose einer chronischen Erkrankung eine starke Stressreaktion auslösen.

All diese Stressereignisse können nicht nur zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs führen. Auch psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angstattacken sind mögliche Folgen. Stress kann außerdem zur Entwicklung eines Typ-2-Diabetes führen oder einen bestehenden Typ-1- oder Typ-2-Diabetes verschlechtern und die Behandlung erschweren.


2. Ursache für Blutzuckerschwankungen bei Stress

Allgegenwärtige Stressoren im Alltag, zum Beispiel Zeitdruck, Lärm oder Konflikte, betreffen sowohl Menschen ohne wie auch mit Diabetes. Interessant ist jedoch, dass Menschen dieselben Stressquellen sehr unterschiedlich erleben, verarbeiten und bewältigen. Neben Persönlichkeitsfaktoren und zurückliegenden Erfahrungen tragen vor allem Bewältigungs- und Lösungsstile dazu bei, dass dieselben Stressoren von manchen Menschen leicht ertragen werden, andere sich jedoch damit hoch belastet fühlen.

Dass sich Stress ungünstig auf den Blutzuckerspiegel und damit den Diabetes auswirkt, konnte mittlerweile mehrfach belegt werden. In Tierversuchen konnte gezeigt werden, dass bereits kurzzeitiger Stress zu einem Blutzuckeranstieg führt. Die Forschenden verabreichten gesunden Mäusen das Stresshormon Kortisol über ihr Trinkwasser, das innerhalb kurzer Zeit zum Anstieg von Blutzucker und Blutfetten führte. Die Tiere fraßen außerdem mehr und bewegten sich weniger, was mit einer raschen Gewichtszunahme bereits nach 4 bis 5 Wochen einherging. Außerdem nahm die Wirkung des Insulins bis hin zur Insulinresistenz ab und der Blutdruck stieg an.

Gut zu wissen:

Zu den möglichen Folgen von Stress gehören daher Übergewicht, Bluthochdruck, erhöhte Blutzuckerwerte und veränderte Blutfettwerte.

Interessanterweise kann Stress auch den Appetit beeinträchtigen, abhängig von der Intensität des Stresserlebens. In Tiermodellen führte dauerhaft erhöhter Stress dazu, dass die Tiere an Appetitlosigkeit litten und stark an Gewicht verloren. Dagegen kam es bei Tieren, die dauerhaft mäßig erhöhtem Stress ausgesetzt waren, zu einer vermehrten Nahrungsaufnahme. Das bedeutet: Auf der einen Seite kann Stress über einen verringerten Appetit die Nahrungsaufnahme hemmen, was bei insulinbehandelten Menschen mit Diabetes Unterzuckerungen begünstigt. Auf der anderen Seite kann eine starke Stressbelastung auch eine übermäßige Zufuhr von Nahrung bewirken („emotionales Essen“), was das Risiko für erhöhte Blutzuckerwerte und Übergewicht deutlich ansteigen lässt.

diabinfo-Podcast Stressessen vermeiden (Prof. Dr. Bern­hard Kul­zer)

Wir sprechen mit dem Psychologen Prof. Dr. Bernhard Kulzer unter anderem über die Hintergründe, auf die das individuelle Ernährungsverhalten in Stresssituationen zurückzuführen ist und welche verschiedenen Möglichkeiten es für den Umgang mit Stress gibt.

Viele Menschen mit Diabetes fühlen sich durch die Sorge um Unterzuckerungen, aber auch durch Ängste vor Folgeerkrankungen, durch komplexe Therapieanforderungen und Benachteiligungen in der Öffentlichkeit belastet. Personen mit hohem diabetesbedingten Stress berichten häufig von einem beeinträchtigten Wohlbefinden und einer depressiven Grundstimmung. Gefühle der Überforderung, Resignation und Erschöpfung in der Diabetes-Behandlung können letztlich dazu beitragen, dass Menschen mit Diabetes die Erkrankung ablehnen, im Alltag „ausblenden“ und es daher nicht schaffen, die Therapie sorgfältig und regelmäßig umzusetzen.

Hier erfahren Sie mehr dazu wie Diabetes Gehirn und Psyche beeinflussen kann.


3. Wie können Menschen mit Diabetes mit stressigen Situationen umgehen?

Lärm, Arbeitsdruck oder zwischenmenschliche Konflikte gehören zum Alltag und lassen sich nicht gänzlich vermeiden. Hilfreich ist es daher, auf ein Arsenal an geeigneten Strategien zur Stressbewältigung zurückgreifen zu können. Dies bedeutet einerseits, Stress vorzubeugen beziehungsweise zu vermeiden oder mit ihm umgehen zu lernen. Für die Bewältigung wiederkehrender oder dauerhafter Belastungen haben sich Entspannungstechniken (zum Beispiel progressive Muskelrelaxation) bewährt, die im Alltag auch kurzzeitig angewendet werden können.

Darüber hinaus helfen auch Fertigkeiten wie

  • Belastungen aus einem anderen Blickwinkel zu sehen
  • für Probleme konstruktive Lösungen zu finden, zum Beispiel Zeitmanagement, Checklisten
  • hilfreich mit Anspannung und negativen Emotionen umzugehen, zum Beispiel Achtsamkeitsübungen
  • eigene Stärken und Ressourcen zu nutzen, zum Beispiel um Ausgleich zu finden und sich regenerieren zu können

 

Weiterhin sind körperliche Aktivitäten und spielerische Bewegung sehr empfehlenswert, Stress abzubauen und gleichzeitig dem Stoffwechsel etwas Gutes zu tun.

Hier erfahren Sie mehr zum Thema Sport bei Typ-1-Diabetes.

Lesen Sie hier mehr zu Bewegung bei Typ-2-Diabetes.

 

Bei hohen psychischen Belastungen, zum Beispiel Depression, Ängsten, Suchtproblemen, sollte eine rasche Abklärung der Diagnose und der geeigneten psychotherapeutischen Hilfen erfolgen. Dazu zählen zum Beispiel psychotherapeutische Sprechstunden als Voraussetzung für eine Psychotherapie.  

Zur Bewältigung diabetesbezogener Belastungen hat sich die Teilnahme an strukturierten Schulungsprogrammen bewährt, die von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) zertifiziert sind und ambulant überwiegend in Diabetes-Schwerpunktpraxen angeboten werden. Ziele dieser Schulungen, die meist in kleinen Gruppen stattfinden, sind nicht nur der Erwerb von Wissen und Fertigkeiten, sondern auch das praktische Üben, die Stärkung der Motivation, das Entwickeln eigener Ziele und der Austausch mit anderen betroffenen Personen.

Hier erfahren Sie mehr zu Patientenschulungen bei Typ-1-Diabetes.

Informationen zu Patientenschulungen bei Typ-2-Diabetes finden Sie hier.

 

Seit einigen Jahren tragen neue Diabetes-Technologien auch zu einer spürbaren Entlastung in der täglichen Umsetzung der Therapie bei. Dazu zählen zum Beispiel kontinuierliche Glukosemesssysteme (CGM), Insulinpumpen, Bolusrechner oder Algorithmen, welche die Kalkulation des Insulinbedarfs unterstützen. Die Anwendung von Glukosesensoren erleichtern die Beobachtung des Glukoseverlaufs und ermöglichen eine physiologischere Anpassung der Insulingaben, zum Beispiel durch eine Absenkung der Basalrate vor körperlicher Bewegung. Mit Hilfe des verbesserten Überblicks über die Werte und der vereinfachten Therapie lassen sich Zielwerte leichter erreichen. Alarme vor Unterzuckerungen und Überzuckerungen vermitteln das Gefühl von Sicherheit, rechtzeitig reagieren und Komplikationen vermeiden zu können. Besonders Kinder mit Diabetes und deren Eltern beschreiben, dass neue Technologien erheblich zur Reduktion von Ängsten, Sorgen und Stress beitragen.

diabinfo-Podcast Der richtige Umgang mit Stress (Prof. Dr. Bern­hard Kul­zer)

Ob eine Situation als stressig empfunden wird, hängt zum großen Teil vom individuellen Empfinden ab. Jeder Mensch kann lernen, eine gewisse Lässigkeit im Umgang mit Stress zu entwickeln. Schon kleine Achtsamkeitsübungen können helfen, im Alltag zur Ruhe zu kommen. Darüber sprechen wir mit Prof. Dr. Bernhard Kulzer, Leiter der psychosozialen Abteilung der Diabetes-Klinik Bad Mergentheim.

Zusammengefasst: Langandauernder und übermäßiger Stress ist ein bedeutsamer Risikofaktor für die Entstehung und das Fortschreiten psychischer und körperlicher Erkrankungen. Stress trägt nicht nur zu Blutzuckeranstiegen bei, sondern beeinflusst auch das Essverhalten und begünstigt die Entwicklung von Übergewicht. Damit stellt Stress einen zentralen Einflussfaktor auf den Diabetes dar und bestimmt den Verlauf der Blutzuckerwerte, aber auch den langfristigen Verlauf der Erkrankung mit. Aus diesem Grund lohnt es sich, achtsam mit sich umzugehen und Fertigkeiten zu üben, hilfreich mit Stress und diabetesbedingten Belastungen umzugehen.

Quellen:

Aljawarneh, Y. M. et al.: Psychological interventions for adherence, metabolic control, and coping with stress in adolescents with type 1 diabetes: a systematic review. In: World J Pediatr, 2020, 16: 456-470
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Stress und Stressbewältigung. (Letzter Abruf: 30.03.2023)
Fransson, L. et al.: β-Cell adaptation in a mouse model of glucocorticoid-induced metabolic syndrome. In: J Endocrinol, 2013, 219: 231-241
Hajós, T. R. et al.: Toward defining a cutoff score for elevated fear of hypoglycemia on the hypoglycemia fear survey worry subscale in patients with type 2 diabetes. In: Diabetes Care, 2014, 37: 102-108
Heinemann, L. et al.: Glucose Measurement and Control in Patients with Type 1 or Type 2 Diabetes. In: Exp Clin Endocrinol Diabetes, 2019, 127: S8-S26
Karatsoreos, I. N. et al.: Endocrine and physiological changes in response to chronic corticosterone: a potential model of the metabolic syndrome in mouse. In: Endocrinology, 2010, 151: 2117-2127
Kulzer, B. et al.: Psychosoziales und Diabetes. In: Diabetologie, 2021, 16: S389-S405
Kulzer, B. et al.: S2-Leitlinie Psychosoziales und Diabetes – Langfassung (Teil 2). In: Diabetologie, 2013, 8: 292-324 (Gültigkeit abgelaufen, in Überarbeitung)
Merabet, N. et al.: How exposure to chronic stress contributes to the development of type 2 diabetes: A complexity science approach. In: Front Neuroendocrinol, 2021, 65: 100972
Schlüter, S. et al.: Glukosemessung und -kontrolle bei Patienten mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes. In: Diabetologie, 2021, 16: S119-S141
Stand: 30.03.2023