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Welche Rolle spielt das Gehirn bei der Entstehung von Diabetes?

Wissenschaftliche Unterstützung: Prof. Dr. Paul Pfluger

Seit einigen Jahren rückt das Gehirn stärker in den Fokus der Diabetes-Forschung. Dabei kristallisiert sich mehr und mehr heraus: Nicht nur die insulinproduzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse sind für die Aufrechterhaltung der Glukose-Homöostase verantwortlich, auch das Gehirn kann einen direkten Einfluss auf den Glukosestoffwechsel ausüben. 

Seit langem weiß man von der regulierenden Wirkung unseres Gehirns auf Organe wie die Leber, Muskeln oder das Fettgewebe. Das Gehirn dient hierbei als übergeordnetes Organ, das den Soll-Zustand unseres Stoffwechsels durch Kontrolle der einzelnen Organfunktionen aufrechterhalten soll. Zur Beibehaltung dieses Gleichgewichts (Homöostase) benötigt unser Gehirn jedoch Signale zum Ist-Zustand jedes einzelnen Organs. Hormonelle Signalstoffe sowie Nahrungsmoleküle wie Glukose spielen in dieser Kommunikation von den Körperorganen an das Gehirn eine entscheidende Rolle. Die Steuerung dieser Organe durch das Gehirn kann ebenfalls über hormonelle Signalstoffe erfolgen, läuft jedoch meist über die Nervenbahnen unseres autonomen Nervensystems. Das autonome Nervensystem ist der Teil unseres Nervensystems, der unwillkürlich, also ohne unsere bewusste Kontrolle, arbeitet und beispielsweise den Herzschlag und die Verdauung steuert.

Im Folgenden werden einige bereits bekannte Mechanismen zur Regulation unseres Glukosestoffwechsels durch das Gehirn dargestellt. Neue wissenschaftliche Studien bringen die Entstehung des Typ-2-Diabetes mit Störungen in Steuerungssystemen zwischen dem Gehirn und den übrigen Organen in Verbindung. Für die Prävention von Diabetes sowie zur Entwicklung neuartiger Therapieformen könnten neue Erkenntnisse in diesem Bereich interessant sein.

Medizin-Geschichte: Wie entsteht Diabetes?

Die Idee, dass das Gehirn bei der Regulation des Glukosestoffwechsels eine zentrale Rolle spielt, ist alles andere als neu: Bereits im Jahr 1854 manipulierte der französische Mediziner Claude Bernard bei Ratten den Boden der 4. Hirnkammer – mit der Folge, dass die Tiere an Diabetes erkrankten. Als 1921 das Insulin entdeckt wurde, geriet diese Erkenntnis aber lange Zeit in Vergessenheit.

Die Wissenschaft konzentrierte sich darauf, mehr über das blutglukosesenkende Hormon und seine Bedeutung bei Diabetes zu erfahren. Mit Erfolg: So steht längst fest, dass bei Menschen mit Typ-1-Diabetes die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse zu Grunde gehen. Bei Typ-2-Diabetes werden die Körperzellen unempfindlich für die Wirkung des Insulins und können deshalb den Hauptenergielieferanten Glukose nicht mehr optimal aufnehmen.

Diese sogenannte Insulinresistenz treibt dann den Blutzuckerspiegel der Patientinnen und Patienten in die Höhe. Dass es auch in vielen Hirnregionen Insulinrezeptoren gibt, ist zwar schon länger bekannt. Doch erst seit einigen Jahren wird genauer erforscht, welche Bedeutung das Denkorgan für die Steuerung des Glukosestoffwechsels und damit für die Entstehung von Diabetes hat.

Die Kohlenhydrate aus der Nahrung werden im Verdauungstrakt zu dem Einfachzucker Glukose aufgespalten. Über die Darmwand gelangt dieser wichtigste Energielieferant des menschlichen Körpers in den Blutkreislauf, mit der Folge, dass seine Konzentration dort ansteigt. Dieser erhöhte Blutglukosespiegel regt die Inselzellen der Bauchspeicheldrüse dazu an, verstärkt Insulin freizusetzen. Unter dem Einfluss des Hormons können Zellen und Gewebe wie Leber, Muskeln und Fettgewebe die Glukose dann aufnehmen. Dadurch sinkt der Blutglukosespiegel auf ein normales Maß ab, und die Insulinsekretion geht wieder auf ihren Basiswert zurück.

In diesem traditionellen, inselzellzentrierten Modell der Glukose-Homöostase kommt das Gehirn nicht vor. Das ist schon deshalb überraschend, weil es an der Kontrolle der meisten überlebenswichtigen physiologischen Vorgänge federführend beteiligt ist – von der Körpertemperatur über den Schlaf-Wach-Rhythmus, der Stresshormon-Freisetzung bis hin zum Blutdruck. Zudem steuert das Gehirn mit der Nahrungsaufnahme, der Energiespeicherung und dem Energieverbrauch gleich mehrere Prozesse, die großen Einfluss auf den Glukosestoffwechsel haben.

 

Kommunikation zwischen Gehirn und Bauchspeicheldrüse

Grund genug für zahlreiche nationale und internationale Forschungsteams, die Rolle des Denkorgans bei der Glukose-Homöostase genauer zu analysieren. Aus zahlreichen Studien konnte schließlich im Jahr 2013 ein Modell formuliert werden, das dem Einfluss des Gehirns Rechnung zollt: Eine normale Blutglukoseregulation hängt ab von einer funktionierenden Partnerschaft zwischen den insulinproduzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse einerseits und Nerven-Schaltkreisen im Gehirn (unter anderem im Hypothalamus, der zum Zwischenhirn gehört,) auf der anderen Seite. Dieses gehirnzentrierte System, wie die Forschenden es nennen, trägt entscheidend dazu bei, den Glukosestoffwechsel im Gleichgewicht zu halten.  

Wie kann das Gehirn Schwankungen im Blutglukosespiegel erkennen und die nötigen Maßnahmen zum Gegensteuern einleiten? Heute wissen wir, dass es in den Regulationszentren wie dem Hypothalamus spezialisierte Nervenzellen gibt, die direkt auf Schwankungen im Glukosespiegel reagieren. Hierbei existieren 2 Arten von glukosesensitiven Nervenzellen, die durch ein zu viel an Glukose aktiviert (Ga) beziehungsweise gehemmt, also inhibiert (Gi), werden können und im Anschluss unterschiedliche Verhaltensprogramme und Stoffwechselprozesse in Gang setzen. 

  • Bei einer Hypoglykämie wird durch abfallende Glukosespiegel der Gi-Zelltyp aktiviert, was die sofortige Nahrungssuche und Kalorienzufuhr in Gang setzt. Über eine Aktivierung des autonomen Nervensystems werden zudem die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin sowie das Pankreas-Hormon Glukagon ausgeschüttet. Dies wiederum erhöht die Produktion von Glukose in der Leber, senkt die Freisetzung von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse und reduziert die Aufnahme von Glukose in die Muskeln, erhöht also letztendlich unseren Blutglukosespiegel.
  • Bei ansteigendem Blutglukosespiegel werden Ga-Nervenzellen aktiviert. Dann kommt es zur Hemmung der Gluconeogenese, also Neubildung von Glukose, in der Leber, zur verstärkten Aufnahme von Glukose in die Muskeln beziehungsweise ins Fettgewebe sowie zur erhöhten Freisetzung von Insulin, letztlich also zu einem Sinken des Blutglukosespiegels.

Gut zu wissen:

Der Hypothalamus ist die Kontrollinstanz für so wichtige Funktionen wie Fortpflanzung, Stressreaktionen, Ernährung, Temperaturregulation und die innere Uhr. Um diesen Aufgaben nachzukommen, unterhält die zum Zwischenhirn gehörende Struktur zahlreiche Nervenverbindungen zu anderen Hirnarealen und empfängt Signale aus Geweben wie Fett, Bauchspeicheldrüse oder Leber. Viele Nervenzellen des Hypothalamus können zudem direkt Glukose wahrnehmen, dienen also als Sensoren für unseren Blutglukosespiegel.

Interessanterweise können Hormone, wie zum Beispiel Insulin, das von der Bauchspeicheldrüse ausgeschüttet wird, oder Leptin aus dem Fettgewebe, die glukosesensitiven Nervenzellen im Gehirn auch direkt aktivieren.

Die Steuerung des Glukose-Gleichgewichts durch das Gehirn erfolgt also durch eine komplexe und wechselseitige Kommunikation zwischen Nervenzellen und anderen Organen, ob über Glukose selbst, über Nervenbahnen des autonomen Nervensystems oder über hormonelle Signalstoffe. Diese hormonellen Signalstoffe spielen hier eine zentrale Rolle, regulieren zudem neben dem Glukosestoffwechsel zahlreiche weitere physiologische Vorgänge wie beispielsweise unser Essverhalten und Körpergewicht, aber auch unsere Fortpflanzung und unser Liebesleben. 

Neben dem Hypothalamus und Hirnstamm besitzen noch zahlreiche weitere Hirnregionen Rezeptoren für die hormonellen Botenstoffe. Die genauen Regelkreisläufe und funktionellen Zusammenhänge sind jedoch oftmals noch weitgehend unbekannt. Klar ist aber: Insulin hat auch im Gehirn eine wichtige Funktion.

Wie wirkt Insulin im Gehirn?

Dass Insulin nicht nur an den Körperzellen wirkt, sondern auch im Gehirn, ist seit einiger Zeit bekannt. Insbesondere im Hypothalamus, der den Energiehaushalt des Körpers steuert, gibt es Rezeptoren für das Hormon. Auch die Belohnungszentren des Mittelhirns spielen hier eine zentrale Rolle. Viele Forschungsgruppen untersuchen diese Mechanismen jetzt eingehender. Werden bei Mäusen die Insulinrezeptoren im Hypothalamus ausgeschaltet, hat dies zur Folge, dass die Tiere gefräßiger werden und auch mehr Gewicht und Fettmasse zulegen als ihre Artgenossen mit intakten Rezeptoren. Übergewicht und zu viel Fett im Bauchbereich (viszerales Fettgewebe) gehören wiederum zu den wichtigsten Risikofaktoren für Typ-2-Diabetes.  

Die nach dem Essen erhöhte Insulinkonzentration im Körper übermittelt dem Gehirn offenbar das Signal: „Ich bin satt, die Kalorienzufuhr soll beendet werden.“ Diese Erkenntnis konnten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD) in einer Studie mit übergewichtigen Menschen untermauern. Zunächst ermittelten sie, wie stark die Gehirne der Teilnehmenden auf Insulin ansprachen. Dazu nutzten sie eine Magnetenzephalographie, also eine Untersuchungsmethode, die die Magnetfelder im Gehirn misst. Anschließend absolvierten die Probandinnen und Probanden ein 2-jähriges Lebensstil-Interventionsprogramm, das darauf abzielte, Körperfett zu verlieren und fitter zu werden. Das Ergebnis: Je unempfindlicher das Gehirn für die Insulinwirkung ist, desto schwerer fiel es den Teilnehmenden, abzunehmen und ihr Bauchfett zu reduzieren.

Gut zu wissen:

Insulin wirkt nicht nur in Muskeln, Fett und Leber, sondern auch im Gehirn. Mit Hilfe von Rezeptoren in Hirnregionen wie dem Hypothalamus entfaltet das Hormon hier seine Effekte auf das Essverhalten, den Energie- und den Glukosehaushalt. Bei Typ-2-Diabetes häufen sich die Belege, dass es auch im Gehirn zu einer Insulinresistenz kommen kann, die sich negativ auf den Blutglukosespiegel auswirkt.

Eine Insulinresistenz, die die Körperzellen betrifft, ist Hauptursache für die erhöhten Blutglukosewerte bei Menschen mit Typ-2-Diabetes. Studien am Tiermodell legten bereits nahe, dass die Insulinsensitivität im Hypothalamus die Wirksamkeit des Hormons im übrigen Körper beeinflusst.

Dass dieser Zusammenhang auch bei Menschen besteht, haben Forschende 2012 erstmals nachgewiesen, indem sie Probandinnen und Probanden Insulin per Nasenspray verabreichten und dann deren Hirnaktivität sowie die Insulinwirkung in ihren Körpergeweben untersuchten.

Ebenfalls mit Hilfe von Insulin-Nasenspray konnten die Forschenden in den Jahren 2014 und 2017 zeigen, dass die Insulinwirkung im Gehirn die Insulinfreisetzung aus der Bauchspeicheldrüse und die Glukoseaufnahme in die Körperzellen verstärkt und gleichzeitig die Gluconeogenese der Leber senkt. Insgesamt kann Insulin im Gehirn also über verschiedene Prozesse unseren Glukosestoffwechsel verbessern. Dieser Effekt lässt sich allerdings nur bei schlanken, gesunden Probandinnen und Probanden beobachten. Übergewichtige Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer sind unempfindlich für die Effekte des Hormons auf das Gehirn. Ein Beleg dafür, dass veränderte Reaktionen in bestimmten Hirnarealen an der Entstehung der Insulinresistenz der Körperzellen beteiligt sind – und damit an einem zentralen Faktor des Typ-2-Diabetes.

Insulin entfaltet im Gehirn also weitreichende Effekte auf den Energiehaushalt und den Glukosestoffwechsel. Einerseits ist es an der Kontrolle von Kalorienaufnahme und Essverhalten beteiligt. Andererseits hat die Insulinempfindlichkeit bestimmter Hirnareale Einfluss darauf, ob und wie gut das blutglukosesenkende Hormon im Rest des Körpers wirken kann.

Forschende des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD) konnten in den vergangenen Jahren zudem Belege dafür finden, dass Insulin im Gehirn in zentraler Wechselwirkung steht mit Leptin, einem der wichtigsten Hormone für die Regulation unseres Körpergewichtes und Essverhaltens.

Bei hochgradig adipösen Menschen konnte die Gabe von Leptin die Wirkung von Insulin im Gehirn verbessern. Im Mausmodell konnte dieser Leptin-Effekt mit der Abschwächung von Entzündungsvorgängen und der hierdurch verbesserten Insulinsensitivität im Hypothalamus erklärt werden. Allerdings ist seit langem bekannt, dass hohe Leptinwerte sowohl in Mäusen als auch im Menschen den Drang nach körperlicher Aktivität abschwächen. Bewegungsmangel als wesentlicher Risikofaktor für den Typ-2-Diabetes kann also durch erhöhte Leptinspiegel noch verstärkt werden.

Das Hormon Leptin

Adipokine sind Botenstoffe, die von den Fettzellen produziert werden. Bekanntester Vertreter ist das erst 1994 entdeckte Leptin. Gut gefüllte Fettzellen setzen dieses Hormon frei und signalisieren so dem Gehirn, das Essen einzustellen und Energie aus Speichern wie den Fettdepots zu gewinnen. Bei adipösen Menschen funktioniert die Appetit- und Speckbremse jedoch nicht mehr richtig aufgrund einer Leptinresistenz. Trotz eines permanent hohen Leptinspiegels im Blut wird das Gehirn also kein Stoppsignal für die Nahrungsaufnahme vermitteln, sondern vielmehr das Hungergefühl verstärken und somit für ein weiteres Auffüllen der Fettspeicher sorgen.

Gut zu wissen:

Das von Fettzellen freigesetzte Hormon Leptin wirkt im Körper als Appetit- und Speckbremse. Darüber hinaus aktiviert der Botenstoff den gehirnzentrierten Blutglukosestoffwechsel. Folge ist eine gesteigerte Glukoseverwertung – unabhängig von der Insulinwirkung an den Körperzellen.

Leptin hat direkte Effekte auf den Glukosestoffwechsel. Das zeigen Versuche an Ratten und Mäusen mit Typ-1-Diabetes. Wird den Tieren Leptin in die Hypothalamusregion gespritzt, normalisieren sich – trotz des krankheitsbedingten Insulinmangels – ihre deutlich erhöhten Blutglukosespiegel. Gleiches gilt für die Glukosetoleranz, also die Fähigkeit, die Blutglukose zu verwerten.

Dies widerspricht der althergebrachten, streng inselzellzentrierten Vorstellung von der Glukose-Homöostase. Nach dem neuen Modell aktiviert Leptin vielmehr das gehirnzentrierte System der Glukoseregulation, das daraufhin die Glukoseverwertung ankurbelt – auch über Mechanismen, die nicht von der Insulinwirkung an den Körperzellen abhängen. Diese insulinunabhängige Blutglukosesenkung, die ähnlich viel zur gesamten Glukose-Homöostase beiträgt wie das Insulin, wird auch durch andere Botenstoffe befördert. Dazu gehören mit dem Darmhormon Glucagon-like-peptide-1 (GLP-1) und dem Fibroblast Growth Factor 21 (FGF21) 2 Hormone, die bei der Nahrungsaufnahme in den Blutkreislauf freigesetzt werden. 

Leptin wird bereits bei Menschen mit der Fettspeicherkrankheit Lipodystrophie eingesetzt und reduziert neben klinischen Symptomen wie dem gestörten Essverhalten und erhöhten Blut- und Leberfettwerten auch die Insulinresistenz dieser Patientinnen und Patienten.

Bei adipösen Menschen erfüllt das Sättigungshormon Leptin seine Wirkung nicht. Man spricht von einer Leptinresistenz. Molekulare Ursachen für die Leptinresistenz sind bisher nur unzureichend verstanden, werden aber in den Nervenzellen des Hypothalamus vermutet. Erste Ansätze zielen hier zunehmend darauf ab, die Leptin-Sensitivität in dieser Sättigungszentrale des Gehirns wiederherzustellen und damit die körpereigenen Mechanismen zur Gewichtssteuerung wieder zu aktivieren. Dies konnte mit Peptidhormonen wie den oben beschriebenen GLP-1 und FGF21 oder dem Bauchspeicheldrüsenhormon Amylin (Insel-Amyloid-Polypeptid, IAPP) bewerkstelligt werden. 

Neuere Versuche zeigen zudem, dass der in der chinesischen Medizin verwendete pflanzliche Wirkstoff Celastrol über genau diesen Mechanismus, also die Wiederherstellung der Leptin-Sensitivität in den Sättigungszentren des Gehirns, bei fettleibigen Mäusen zu einem deutlichen Gewichtsverlust und zu einer Verbesserung des Diabetes führt. Erste noch vorläufige Studien beim Menschen scheinen diesen Befund zu bestätigen. Ob Celastrol oder ähnliche Wirkstoffe, die die Leptin-Empfindlichkeit verstärken, jedoch auch dauerhaft als sichere und effektive Medikamente gegen Adipositas und Typ-2-Diabetes genutzt werden können, muss erst in längerfristigen klinischen Studien gezeigt werden.

Gehirn und Bauchspeicheldrüse

Diese neuen Forschungsergebnisse untermauern mehr und mehr, dass der Mediziner Claude Bernard schon vor 150 Jahren mit seiner Idee richtig lag: Der Glukosestoffwechsel ist auch Kopfsache. Offenbar wird der Blutglukosespiegel von 2 Systemen kontrolliert – in einem komplexen, fein abgestimmten Wechselspiel, das noch nicht bis ins letzte Detail verstanden ist.

Auf der einen Seite stehen die Inselzellen der Bauchspeicheldrüse. Beim Essen setzen sie als Reaktion auf den ansteigenden Blutglukosespiegel Insulin frei, so dass die Körperzellen die Glukose aufnehmen und verwerten können. Neben Insulin- und Glukosespiegel erhöht eine Mahlzeit im Blut auch die Konzentration von Botenstoffen wie GLP-1 und FGF21. All das sind Signale, die das gehirnzentrierte glukoregulatorische System aktivieren.

Auf der anderen Seite stehen Kontrollzentren des Gehirns, die zentral den Glukosehaushalt in den Zellen und Geweben steuern. Die Aktivierung dieser Kontrollzentren wird zum einen über Nervenzellen gesteuert, die direkt von Botenstoffen wie Insulin, GLP-1 oder FGF21 aktiviert werden. Zum anderen sind in den Kontrollzentren des Gehirns auch spezialisierte Nervenzellen (Neurone) vorhanden, die direkt Schwankungen im Blutglukosespiegel messen und an übergeordnete Kontrollneurone weiterleiten. Diese wiederum können die Glukoseverwertung im Körper direkt steuern, unabhängig von Insulin. Sie können die Insulinempfindlichkeit erhöhen, die Glukoseproduktion in der Leber verstärken oder reduzieren oder die Muskelzellen dazu bringen, mehr Glukose aufzunehmen. Auf diese Weise sorgen das Gehirn und die Inselzellen der Bauchspeicheldrüse also gemeinsam dafür, dass sich auch nach einem üppigen Essen die Blutglukosewerte schnell wieder normalisieren.

Arbeitet eines der Systeme nicht richtig oder versagt vollständig, kann das andere dies kompensieren, zumindest teilweise und für eine gewisse Zeit, so die derzeitige Vorstellung der Forschenden. Deshalb vermuten sie inzwischen, dass sich insbesondere ein Typ-2-Diabetes nur dann entwickelt, wenn beide Systeme geschädigt sind.

Perspektiven

Neben einem besseren Verständnis der Diabetes-Entstehung eröffnet die Erforschung des Zusammenspiels zwischen Gehirn und Glukosestoffwechsel Ansatzpunkte für neue Therapien. 

Bislang werden die Patientinnen und Patienten mit Insulin beziehungsweise mit Medikamenten, die die Insulinproduktion der Bauchspeicheldrüse anregen oder die Wirksamkeit des Hormons verbessern, behandelt. Damit bekommt man zwar die Blutglukosewerte in den Griff, heilen lässt sich die Krankheit so aber nicht.

Eine ergänzende Behandlung mit Wirkstoffen, die gezielt in die blutglukoseregulierenden Mechanismen im Gehirn eingreifen, könnte das ändern, so die Hoffnung der Diabetesforscherinnen und -forscher. Im Tiermodell wird das bereits erprobt und die Ergebnisse sind vielversprechend. So senkt die Gabe von Leptin bei Mäusen mit Typ-1-Diabetes den Glukosespiegel im Blut ebenso zuverlässig wie Insulin. Der Botenstoff FGF21 führt bei diabetischen Tieren dazu, dass sich ihr Glukosehaushalt deutlich verbessert. 

Nach einer einmaligen Verabreichung des eng verwandten Botenstoffes FGF1 in das Gehirn von Nagern mit Diabetes konnte ein Wissenschaftsteam der Washington University in Seattle, USA, sogar die dauerhafte Senkung der Blutglukose und komplette Remission des Diabetes beobachten. 

Kombinationshormone auf Erfolgskurs gegen Adipositas und Diabetes

Der Grund für diesen spektakulären Erfolg der FGF1-Gabe ist nach wie vor unklar, die Versuche weisen allerdings den Weg für die therapeutische Behandlung von Typ-2-Diabetes. Hormonelle Botenstoffe stehen hierbei im Zentrum der Forschung und dienen als Grundlage für die Entwicklung von neuartigen Kombinations-Hormonen. Wie im Baukasten werden hierbei zum Beispiel einzelne Teile von Peptidhormonen zusammengesetzt, um die positiven Eigenschaften der Einzelkomponenten zu nutzen und gleichzeitig negative Eigenschaften gezielt auszublenden. 

So konnte im Jahr 2009 erstmals ein Peptidhormon bestehend aus dem Darmhormon GLP-1 sowie dem Bauchspeicheldrüsen-Hormon Glukagon erfolgreich kombiniert werden und im Tiermodell bahnbrechende Effekte als Medikament gegen Adipositas und Typ-2-Diabetes erzielen. Weitere Kombinationspräparate sind auf dem gleichen Weg und könnten in Zukunft die personalisierte und maßgeschneiderte Therapie des Typ-2-Diabetes erleichtern. Die neuartigen Hormonpräparate, insbesondere ein Fusionspeptid aus GLP-1 und dem Inkretinhormon Glucose-dependent insulinotropic Peptide (GIP), durchlaufen derzeit mit hohem Erfolg die verschiedenen Stadien der klinischen Erprobung am Menschen und werden in absehbarer Zeit voraussichtlich Aufnahme in die klinische Praxis finden. Ähnliche Hoffnungen hegt man für neue, optimierte Varianten des Inkretinhormons GLP-1 mit verbesserter Langzeitwirkung sowie oraler Aufnahme. Bis die neuen Hormon-Präparate eine Marktzulassung erreichen, stehen jedoch noch weitere Langzeit- und Sicherheitsstudien an, unter anderem durchgeführt von Partnern des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD).

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Stand: 03.09.2020